Lebenskunst

»Neubeginn« als gebende Kraft des Menschen

Der Mensch kann etwas erschaffen, das vorher nicht da war.

Wir beginnen unmittelbar diese, rein menschliche Kapazität zu erkennen, anzuwenden und zu entwickeln. Das fängt schon im Kleinen an, zum Beispiel beim Herrichten des Essenstisches. Es kann immer etwas gestaltet werden! Die Frage: „Was soll entstehen?“ könnte uns von nun an bei jeder Handlung und in jeder Situation wie selbstverständlich begleiten. So gestalte ich selbst, anstelle durch automatisierte Gewohnheiten aus der Vergangenheit, Traumen, Ängste oder sonstige unbewusst aufsteigende Gedanken und Gefühle geleitet zu sein.

Interessant und auch ausschlaggebend dabei ist, dass mit jedem bewussten Gestaltungsprozess tatsächlich ein »Neubeginn« verbunden zu sein scheint. Es wird nicht nur das bereits Vorhandene hin und her geschoben bis es passt, sondern das was entsteht, kommt aus einer Idee, welche geistig und somit nicht materiell ist. Der Ausgangspunkt des Neuen ist nicht das Alte. Dies gilt es in seiner essentiellen Bedeutung zu verstehen. Die Unabhängigkeit des Neuen vom Alten. Das Alte hat uns zu dem Punkt geführt, an dem wir gerade stehen. Was wir aber nun vorhaben und in der Welt gestalten möchten, kann völlig neue Wege gehen.

Vom kreativen Standpunkt aus gesehen gehört die sichtbare Welt – wie ich sie in diesem Moment wahrnehme – bereits der Vergangenheit an, da sie bereits geschaffen, also schon fertiggestellt ist. So gesehen kann der eigentliche, magische Moment der »Gegenwart« nichts Materielles beinhalten, sondern er muss »geistig« sein. Logisch betrachtet ist es demnach nicht ganz leicht die Gegenwart tatsächlich zu erfassen.

Die mit den Sinnen erfassbare Welt im Hier und Jetzt entspricht dem, was wir »Realität« nennen, wenn wir imstande sind, sie vorurteilsfrei und unvoreingenommen, ohne subjektive Bewertungen und Projektionen wahrzunehmen – was normalerweise nicht der Fall ist. Normalerweise stellen sich die unbewusst und automatisch eintretenden Projektionen und Werturteile über das was wir sehen fast ebenso schnell ein, wie das Licht der Wahrnehmung den Gegenstand unserer Betrachtung erreicht.

Ideal genommen müsste alles Bewertende und Kategorisierende aus dem Zur-Kenntnis-Nehmen des Seienden zurückweichen, damit die Realität sich uns so wie sie ist offenbaren kann. Einer durch uns Menschen und auch universell frei wirkenden Schöpferkraft nach entsteht aus dem Gewahrsein des Jetzigen eine Idee für das Zukünftige, mit gewissen Verbesserungen darin. Und diese Idee, als nicht materielle sondern geistige Existenz, bildet den Ausgangspunkt für etwas das neu ist, das Zukünftige und Werdende.

Der Unterschied scheint banal zu sein, er ist es aber nicht. Dieser kleine Einschub von etwas Geistigem in den Lauf der Dinge bringt eine Freiheit in das Leben, die es sonst nicht gäbe. Mit dem Geist, oder der aus der vorurteilsfreien Wahrnehmung der Realität geborenen Idee, kommt immer etwas Neues herein, das unabhängig und frei sich ausgestalten kann und möchte.  

Mit jedem aus dem Kontakt zur »Realität« gebildeten und gewollten Gedanken ist ein »Neubeginnen« verbunden, welches das Werdende maßgeblich beeinflussen und gestalten kann. »Das Alte« mit seiner greifbaren materiellen Existenz aber auch mit seinen alten Gedankenmustern und unbewussten Impulsen ist nicht führend und wirkt somit auch nicht mehr determinierend, sobald der Mensch sich für ein Gewahrsein der »Realität« öffnet, mit dieser in Beziehung tritt und dabei überlegt: „Wie soll es werden?“, „Was soll entstehen?“ oder „Was könnte ich dem noch hinzufügen?“. Es gibt diese zwei Möglichkeiten: Selbst gestalten – oder – gestaltet werden. Im zweiten Fall bin ich wie eine Marionette meiner bereits geprägten Verhaltensmuster mit ihren Impulsen aus der Vergangenheit oder anderer, fremder Einflüsse.

Der Mensch hat ein »Ich« und kann deshalb keine Marionette oder ein Rädchen in einem mechanischen Getriebe sein, außer er verleugnet sein Ich-Sein. Und doch scheint des Menschen Ich auch lebendiger Teil eines größeren Ganzen zu sein, in das es sich einordnen kann und aus dem es herausfallen oder sich herausnehmen kann. Die Vorstellung ein »Instrument« von irgendetwas oder irgendwem zu sein scheint eine außerordentlich ungesunde und sogar gefährliche Vorstellung zu sein, denn wo bleibt da des Menschen Verantwortung für seine Situation und sein Tun? Auch sollte sich der Mensch niemals blind etwas hingeben, sondern stets versuchen sich selbst durch aktive Auseinandersetzung ein eigenes Bild zu formen. Eine derartige kreative und beziehungsfreudige selbstaktive Haltung scheint sehr „gesund“ und der beste Schutz gegenüber degenerativen Krankheiten wie die Krebskrankheit und Altersdemenz zu sein.

Zum Abschluss ein weiteres einfaches Beispiel aus dem Alltag: Alles, was ich bewusst und vorurteilsfrei wahrnehme, kann durch mich belebt, beseelt und veredelt werden. Es kommt dann etwas zu dem bereits Bestehenden hinzu. Die Arbeit der Raumpflege – das Putzen – bekäme hierdurch eine sinnerfüllende, beglückende Bedeutung. Der »Geist der Gegenwart« oder die »Kraft der Gegenwart« scheint etwas zu sein, das in jedem Moment tätig ist um die Welt zu veredeln und zu verschönern. So wird der Einzelne frei das Leben aus der Gegenwart heraus nach eigenem Ermessen bewusst neu zu gestalten.

Wandgemälde entstanden bei den Künstlertagen in der spirituellen Hochschule in Lundo/Naone (Italien):

Dargestellt wurde die lichtvoll verbindende und erhebende Venusqualität in der Beziehung zwischen Mensch und Pferd

Es gilt die gegenwärtige Situation so detailliert und vollständig als möglich wahr zu nehmen, sie bestmöglich zu erfassen, damit mein Ich, oder »der Geist der Gegenwart« über das Licht der Wahrnehmung Veränderungen einbringen kann. Aus der Beobachtung, verbunden mit einem gesunden Selbst – Gewahrsein, resultiert ein Empfinden (Wahrheitsfühlen), das mich zu einem gewünschten Ideal hinführt. Ich kann den kreativen, veredelnen Vorgang verstärken, indem ich mir des ersehnten Ideals bewusst bin, während ich der Realität im Alltag begegne.

Erika Richter

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